Mittwoch, 19. August 2009

Dein Lebensgefühl



Dein tiefstes Lebensgefühl –

wann hast du das gehabt?

Mit einem Freund?

Immer allein.



Einmal, als du an der Brüstung des Holzbalkons standest,

da lag das Schloß Gripsholm, weit und kupplig,

und da lag der See

und Schweden,

und die staubige Waldecke –

und auf der dunkelgrün etikettierten Platte sang ein

Kerl im Cockney-Englisch: »What do you

say ... ?«

und da fühltest du:

Ich bin.



So war dein Lebensgefühl.

Mit einer Frau?

Immer allein.



Einmal, als du nachts nach Hause gekommen bist

von einer vergeblichen Attacke

bei der großen Blonden,

elegant-blamiert, literarisch hinten runtergerutscht,

gelackt, abgewinkt: danke, danke!

da standest du vor deinem runden Nachttisch

und sahst in das rosa Licht der Lampe

und tatest dir leid, falsch leid, leid

und fühltest:

Ich bin.



So war dein Lebensgefühl ...

In der Masse?

Immer allein.



Es ist so selten, das Lebensgefühl.

Casanova hatte es einmal.

Vierter Band.

Er sieht bei seiner Geliebten Rosalinde

zwei Kinder, die er ihr vor Jahren gemacht hat,

schlafend, in einem Bett, Mädchen und Knabe.

Sie zeigt sie ihm,

hebt die Bettdecke hoch, die junge Sau,

die Mutter,

um ihn anzugeilen,

um ihm Freude zu machen,

was weiß ich.

Und er sieht:

wie der Knabe im Schlummer seine Hand auf den

Bauch des Mädchens gelegt hat.

»Da empfand ich«,

schreibt Casanova,

»meine tiefste Natur.«

Das war sein Lebensgefühl.



Verschüttet ist es bei dir.

Du wolltest leben

und kamst nicht dazu.

Du willst leben

und vergißt es vor lauter Geschäftigkeit.

Du willst das spüren, was in dir ist,

und hast eifrig zu tun mit dem, was um dich ist –

Verschüttet ist dein Lebensgefühl.



Wenn du tot bist, wird es dir sehr leid tun.

Noch ist es Zeit –!

Gedicht Die dunkle Wolke

Rote Rosen wuchsen ins Fenster

und der Wein vor deiner Tür

begann, sich zu färben.

Als die dunkle Wolke kam,

verstummte der Gesang der Vögel,

Bienen vergaßen zu summen,

und die Schmetterlinge fanden

den Weg nicht mehr.

Der Himmel verfinsterte sich

und ließ die Dunkelheit lange

in den Räumen zurück.

Ars Poetica

Wie jetzt noch ein Gedicht schreiben,
warum nicht endgültig schweigen
und uns viel nützlicheren Dingen widmen?
Warum die Zweifel vergrößern,
alte Konflikte, unverhoffte Zärtlichkeiten
neu durchleben;
dieses Quentchen Lärm
einer Welt hinzufügen
die mehr ist, die es doch nur zunichte macht?
Wird irgendwas klarer durch solch ein Knäuel?
Niemand braucht es,
Relikt vergangener Herrlichkeiten,
wem hilft es, welche Wunden heilt es?